Was meint "heute"?

Unsere Zeit ist, jedenfalls in dem durch die abendländische Geschichte geprägten Raum, gezeichnet durch eine kulturelle Krise, in der alles unsicher geworden zu sein scheint:

  • Was ist überhaupt Kultur? Viele verwechseln Kultur mit Kulturgeschichte. Andere sprechen von "Leitkultur", können aber nicht sagen, was eigentlich ihr Inhalt und ihr Ziel ist..
  • Zumeist wird Kultur und Zivilisation entweder gleichgesetzt oder miteinander verwechselt.
  • Die Beziehung zu den Wissenschaften ist teils durch Misstrauen, teils durch überzogene Erwartungen, teils durch ein elementares Missverständnis über Wesen, Aufgabe und Möglichkeiten von Wissenschaft geprägt.
  • Die Beziehung zu den Künsten besteht weitgehend einerseits aus Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit, Enttäuschung und Frustration, andererseits aus mehr oder weniger ausgeprägter Verschrobenheit, Besserwisserei und geheucheltem Verständnis.

Das führt zu der Frage: was ist eigentlich Kultur?

 

Am ehesten herrscht wohl auch heute noch zu dieser Frage Einigkeit darüber, dass Natur und Kultur einander gegenüberstehen.

 

Aber schon bei der Frage, in welcher Beziehung Natur und Kultur zueinander stehen, gehen die Meinungen stark auseinander. Denken wir nur an das "retourner à la nature" von Rousseau, das heute, vor allem in unseren Landen, geradezu ein Kaleidoskop von Neuauflagen erlebt. Das beginnt bei naiver Natur-Gutgläubigkeit und reicht bis zu der unfasslichen Arroganz und Ignoranz von vor allem nicht unwesentlichen Teilen der protestantischen Kirche mit ihrer Forderung nach "Bewahrung der Schöpfung".

 

Wenden wir uns zu dieser Frage an auch heute noch einigermaßen akzeptierte Denker wie I. Kant oder A. Schweitzer, dann erfahren wir von Kant über den Unterschied von Kultur und Zivilisation:

 

"„Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind civilisirt bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht blos die Zivilisirung aus.“ [Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. (1784)].

 

Immerhin sind sich in dieser Unterscheidung bedeutende Denker, Kant nachfolgend, im Grundsatz einig, heute sogar bis hin zu M. Horkheimer.

Aber kehren wir zurück zu unserer Frage nach der Beziehung zwischen Natur und Kultur.

 

Bei A. Schweitzer können wir dazu finden:

„Der Kampf ums Dasein ist ein doppelter. Der Mensch hat sich in der Natur und gegen die Natur und ebenso unter den Menschen und gegen die Menschen zu behaupten. Eine Herabsetzung des Kampfes ums Dasein wird dadurch erreicht, dass die Herrschaft der Vernunft über die Natur sowohl wie über die menschliche Natur sich in größtmöglicher und zweckmäßigster Weise ausbreitet. Die Kultur ist ihrem Wesen nach also zweifach. Sie verwirklicht sich in der Herrschaft der Vernunft über die Naturkräfte und in der Herrschaft der Vernunft über die menschlichen Gesinnungen.“ [Kultur und Ethik, (1923)].

 

So symphatisch diese Definition klingt, so sehr kann sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass zumindest heute damit die Frage nach dem Wesen der Kultur auf die Frage nach dem Wesen der Vernunft verlagert wird. Und dieser Frage stehen wir heute letztlich genauso hilflos gegenüber wie der Frage "was ist Kultur?".

 

Es zeichnet sich also ab, dass unsere Kulturkrise fundamentalen Charakter hat.

 

Machen wir aber, bevor wir zu Frage kommen, wie es weitergehen soll, erst noch einen Versuch und befragen einen Soziologen aus der unmittelbaren Neuzeit, der sich als moderner Systemtheoretiker einen Namen gemacht hat. Gemeint ist N. Luhman (1927 - 1998). Man kann seine Überlegungen in "Kultur als historischer Begriff"* wohl so verstehen, dass "geschichtlich gesehen, Kultur erst dann beginnt, wenn es einer Gesellschaft gelingt, nicht nur Beobachtungen vom Menschen und dessen Umwelt anzustellen, sondern auch Formen und Blickwinkel der Beobachtungen der Beobachtungen zu entwickeln. Eine solche Gesellschaft ist nicht nur kulturell und arbeitsteilig aus in einem hohen Maße in Experten ausdifferenziert, sondern hat auch Experten zweiter Stufe ausgebildet. Diese letzteren untersuchen die Beobachtungsweisen der ersteren und helfen diese in ihrer Kontingenz zu begreifen, d.h. erst jetzt werden die Inhalte von Kultur als etwas Gemachtes aufgefasst und nicht als eine dem Menschen gegebene Fähigkeit. Kultur wird damit De- und Rekonstruierbar."

 

Nun fühlt man sich bei einer solchen Betrachtungsweise einerseits wieder an das Problem mit A. Schweizters Vernunft erinnert. Andererseits klingt hier etwas durch, was spätestens seit C.G. Jung (1875 - 1961) die Tiefenpsychologie beschäftigt, nämlich die Frage nach dem Bewusstseinszustand des Einzelnen in seiner gesellschaftlichen Umgebung. Darauf kommen wir später zurück.

 

Vielleicht kann man als Zwischenergebnis festhalten, dass eine gegenseitige Bedingdtheit von Natur und Kultur zu beachten ist, auch wenn wir uns schwer damit tun, was das für uns heute bedeutet.

 

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*) Niklas Luhman, "Kultur als historischer Begriff". in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenschaftssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 4, Frankfurt am Main 1985, S. 31 - 54.

 

 

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